Die gesellschaftspolitische Vergangenheit einer Stadt lässt sich zuweilen an den Traditionen der ortsansässigen Fußballvereine ablesen. Dies wird am Beispiel der makedonischen Provinzhauptstadt Thessaloniki besonders deutlich.
Benannt nach einer Halbschwester Alexanders des Großen, entwickelte sich Thessaloniki während des byzantinischen Mittelalters zu einem bedeutenden ökonomischen Zentrum, welches nur noch von Konstantinopel übertroffen wurde.
In der darauffolgenden und bis zum Jahre 1913 reichenden osmanischen Epoche büßte Thessaloniki wenig von seiner diesbezüglichen Geltung ein. Die sephardischen Juden dominierten gemeinsam mit ihren türkischen und griechischen Nachbarn das Stadtbild und machten Thessaloniki damit zum Prototypen einer urbanen osmanischen Gemeinde. In diesem Milieu gründeten griechische Einwohner im Jahre 1899 den Klub der Kunstfreunde, aus dem beinahe eine Dekade später der Fußballverein Iraklis Thessaloniki hervorgehen sollte. Zunächst beschäftigten sich die Kunstfreunde ausschließlich mit der Musik und der Literatur, bevor sie sich im Jahre 1903 auch sportiv betätigten. Dabei stand Fußball zunächst nicht im Vordergrund, sondern vielmehr das Schwimmen und Radfahren. Ein erstes Fußballspiel fand im April 1905 statt.
Finanzielle Engpässe zwangen die Mitglieder des Vereins drei Jahre später, mit der Spielvereinigung Olympia zu fusionieren. Dies war die Geburtsstunde von Iraklis (i.e. Herakles) Thessaloniki, welcher sich nach einem Halbgott der griechischen Mythologie benannte. Der offizielle Name in jenen Jahren lautete Osmanisch Hellenischer Klub von Thessaloniki – Iraklis. Dem Selbstverständnis nach war Iraklis ein griechischer Verein, weshalb die Vereinsfarben blau und weiß jenen der griechischen Nationalflagge entsprachen.
Die politischen Rahmenbedingungen änderten sich in den Jahren 1912/13 in entscheidender Weise: Als Resultat zweier Balkankriege fiel Thessaloniki an den griechischen Staat. Dieser Erfolg beflügelte die Nationalisten im Lande. Sie drängten das Königshaus in Athen, am unmittelbar folgenden Ersten Weltkrieg auf der Seite der Westmächte teilzunehmen. Ihr Ziel implizierte die endgültige Auflösung des Osmanischen Reiches, welches als Verbündeter der Mittelmächte auftrat. Die griechischen Nationalisten träumten von einem Großgriechenland als Wiedergeburt des im Mittelalter untergegangenen Byzanz.
In einer emotional aufgeputschten Atmosphäre gründeten Bürger Thessalonikis im Jahre 1914 den Verein Aris (i.e. der Kriegsgott der griechischen Mythologie) und wählten dabei bewusst die Farben schwarz und gelb, welche identisch mit jenen des Byzantinischen Reiches waren.
Das Königshaus hielt dieser Kriegsbegeisterung des primär republikanischen Lagers seine Neutralitätspolitik entgegen. Kriegsbefürworter, die von einem Großgriechenland in byzantinischen Ausmaßen phantasierten, strömten fortan zu den Schwarz-Gelben, während royalistische Kriegsgegner die Blau-Weißen von Iraklis für sich entdeckten. Insofern standen die beiden Fußballklubs symbolisch für die politische Zerrissenheit der griechischen Gesellschaft, die in einen Bürgerkrieg abzudriften drohte.
Mit Unterstützung der Westmächte setzten sich die Republikaner innenpolitisch durch und führten das Land in den Krieg gegen die Mittelmächte. Dieser wurde gewonnen und einem territorialen Expansionismus nach Kleinasien schien nun nichts mehr im Wege zu stehen. Im heutigen Izmir (damals Smyrna) landeten griechische Truppen und drangen in das Landesinnere vor. Dem stellte sich eine bewaffnete türkische Nationalbewegung entgegen. Sie wurde von dem in Thessaloniki geborenen Mustafa Kemal (i.e. Atatürk) organisiert und verwickelte die griechischen Soldaten in heftige Kämpfe, welche erst im Jahre 1922 mit einer Niederlage der Okkupationsarmee endeten.
Knapp zwei Millionen griechische Flüchtlinge aus Kleinasien setzten sich in der Folgezeit in Richtung Griechenland in Bewegung, wobei Thessaloniki einen zentralen Zufluchtsort darstellte. Gegen Ende der zwanziger Jahre entstammten 48 Prozent der Stadtbewohner einem Flüchtlingshintergrund. Dies führte zu Spannungen mit der alteingesessenen Bevölkerung, welche die zumeist mittellosen Neuankömmlinge für nicht integrierbar hielt. Tatsächlich gründeten viele Vertriebene ihre eigenen Vereine. Hierzu zählte auch der 1926 etablierte Panthessalonikos Athlitikos Omilos Konstantinoupolitos (PAOK), der Sportverein der Flüchtlinge aus Konstantinopel (i.e. Istanbul), der den byzantinischen doppelköpfigen Adler als Emblem wählte. Die Vereinsfarben schwarz und weiß symbolisierten wiederum die tragische Vergangenheit und den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft.
Da sich die Gründerväter bereits in der osmanischen Hauptstadt in einem Sport- und Kulturverein organisiert hatten, reicht die Tradition des Klubs bis in das Jahr 1875 zurück. Damals war in der Stadt am Bosporus die Athletische und Kulturelle Vereinigung Konstantinopels – Hermes bei den örtlichen Behörden angemeldet worden.
In Thessaloniki entwickelte sich PAOK zum größten Verein der Flüchtlinge und damit einhergehend zum schärfsten sportlichen Konkurrenten der Schwarz-Gelben. Die gesellschaftliche Bruchlinie zwischen alteingesessener und neu hinzugekommener Einwohnerschaft machte sich nun auch im Fußball bemerkbar. Sie ging ferner mit dem ökonomischen Status der Anhänger einher. Aris entwickelte sich zum Klub der besser situierten Mittelschicht, während PAOK die zumeist mittellose Stadtbevölkerung ansprach.
Im Laufe der Jahrzehnte wurde diese Eingrenzung obsolet, da PAOK aufgrund seiner sportlichen Erfolge während der siebziger Jahre auch Bewohner ohne Flüchtlingshintergrund für sich begeistern konnte. So war PAOK die erste Mannschaft aus dem Norden Griechenlands, welche in der Nachkriegszeit die nationale Fußballmeisterschaft gewann. Dieses seltene Ereignis fand im Jahre 1976 statt und ließ den Flüchtlingsverein aus Istanbul zusätzlich zu einem sportlichen Aushängeschild Makedoniens werden.
In der jüngsten Vergangenheit konnte PAOK auch im Europapokal größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen als die beiden Stadtkonkurrenten. Während Iraklis nur sporadisch im internationalen Geschäft mitmischt, muss Aris in der kommenden Saison sogar in der Zweiten Liga antreten. Die Rolle als dritte Kraft Thessalonikis wird dann Apollon Kalamarias übernehmen.
Diese Mannschaft ist im Stadtbezirk Kalamaria, unweit des internationalen Flughafens, beheimatet und wurde im Jahre 1926 von griechischen Flüchtlingen aus dem Pontus, dem türkischen Schwarzmeergebiet, gegründet. Die Popularität des Klubs beschränkt sich jedoch weitestgehend auf Kalamaria, was mit dem bisher fehlenden sportlichen Erfolg korrespondieren dürfte. Die Schwarz-Roten verbrachten die vorangegangenen zehn Jahre in der Zweiten Liga und kehrten erst in der Saison 2004/05 in die griechische Eliteliga zurück.
Die Fußballkultur in Thessaloniki ist so vielschichtig wie die Stadt selbst. Auch wenn sich mittlerweile vieles vereinheitlicht hat und der Erfolg ausschlaggebend für die Beliebtheit der einzelnen Vereine ist, so gibt es nach wie vor genügend Fans, welche ihren Klub aufgrund der oben beschriebenen Traditionen auswählen.
Erschienen in der Griechenland Zeitung XX