Vor 160 Jahren erfasste eine Revolutionswelle mehrere Staaten Europas. Im deutschsprachigen Raum lagen die Schwerpunkte zumeist südlich des Mains und westlich der Elbe. Doch auch in Berlin wurde verbissen um eine politische Neugestaltung gekämpft.
Der 17 jährige Schlosserlehrling Ernst Zinna griff nach dem Säbel seines Großvaters. Dann eilte er zur Barrikade, welche Aufständische in der Jägerstraße, unweit des Gendarmenmarktes, errichtet hatten. Soldaten des preußischen Königs näherten sich der Sperre. Als deren Verteidiger die Übermacht des Militärs erkannten, beschlossen sie den Rückzug. Einzig Ernst Zinna und dessen Freund Heinrich Glasewaldt suchten den Kampf. Ein blutiger Schlagabtausch folgte, den der junge Schlosserlehrling nicht überlebte.
Ernst Zinna ahnte an diesem 18. März des Jahres 1848 wohl kaum, dass ausgerechnet er in ferner Zukunft eine Symbolfigur des Aufstandes gegen die herrschenden Verhältnisse werden sollte. Was trieb ihn damals auf die Straße?
Eine Stadt in Armut und mit politischem Elan
Berlin war zu jener Zeit eine von Armut geprägte Stadt mit über 400.000 Einwohnern. Hungerrevolten führten zu Plünderungen von Marktständen, Bäckereien, Fleischereien und Kaffeehäusern. Auch das noble Café Kranzler blieb hiervon nicht verschont. Es zog jedoch nicht nur Plünderer an, sondern diente auch als Treffpunkt politisch interessierter Bürger. Diese konnten sich mit Hilfe der ausliegenden Zeitungen über das Geschehen im In- und Ausland informieren. Neben dem Kranzler boten beinahe 100 weitere Kaffeehäuser und Konditoreien der Stadt Zeitungen an und entwickelten sich daher zu vergleichbaren Treffpunkten. Ferner warb eine Berliner Lesehalle mit mehreren Dutzend Zeitungstiteln um ein wissbegieriges Publikum. Auf diese Weise erfuhren die Menschen von revolutionären Vorgängen in anderen Teilen Europas: Bereits im November 1847 hatte es in der Schweiz einen Bürgerkrieg gegeben, in welchem sich eine liberale Partei gegen einen konservativen Widerpart durchsetzen konnte. Die Ausarbeitung einer liberalen Verfassung folgte. Eine solche Staatsordnung wünschten auch viele Berliner Zeitungsleser für Preußen. Kaum stand die Schweiz nicht mehr in den Schlagzeilen, da brach im Januar 1848 im süditalienischen Palermo eine Revolution aus. Sie zwang den dortigen König ebenfalls zur Ausarbeitung einer Verfassung. Nur wenige Wochen später überschlugen sich die Ereignisse erneut: In Frankreich revoltierten Studenten, Handwerker, Arbeiter und ein liberal geprägtes Bürgertum gemeinsam gegen die Staatsmacht. Die Berliner erfuhren Ende Februar vom Rücktritt des französischen Monarchen. In den Kaffeehäusern und Konditoreien Unter den Linden, am Gendarmenmarkt und anderswo diskutierten die Menschen begeistert und erregt über die Nachrichten aus dem Ausland. Die Emotionen der politisierenden Bewohner erfuhren eine weitere Steigerung, als Demonstrationen für Reformen aus Mannheim, Heidelberg, Stuttgart und Darmstadt gemeldet wurden. Waren die Tage der Monarchie gezählt?
Die Tage vor dem Bürgerkrieg
Auch in der preußischen Hauptstadt rumorte es: Ein Ort, der unzufriedene Berliner scheinbar magisch anzog, lag im Tiergarten, unweit des Hauses der Kulturen der Welt (der ehemaligen Kongresshalle). In den Zelten nannte sich das Areal mit Biergartenatmosphäre und Konzertbühne. Hierhin strömten die Menschen, um über politische Veränderungen zu debattieren und Petitionen zu verfassen. Am 13. März war ihre Zahl bereits auf zirka 20.000 Köpfe angewachsen. Unter den Versammelten befanden sich auffallend viele Arbeiter und Handwerker. Sie mahnten nicht nur politische Reformen an, sondern forderten auch ökonomische Verbesserungen. Ihr Engagement unterstrich, dass die Protestbewegung auf einer breiten gesellschaftlichen Basis stand. Diese brachte sowohl liberal orientiertes Bürgertum als auch sozialistisch motivierte Arbeiterschaft zusammen.
Im Schloss herrschte Uneinigkeit über das Vorgehen gegen die Protestbewegung. König Friedrich Wilhelm IV. war umgeben von Hardlinern und dialogbereiten Ratgebern. Während die Ersten militärisches Eingreifen empfahlen, mahnten die Letzten, der politisch aufbegehrenden Bevölkerung Gesprächsbereitschaft zu signalisieren.
Am 15. März erreichten Nachrichten Berlin, die den Sturz des erzkonservativen österreichischen Staatskanzlers Metternich beinhalteten. Dieser hatte sich in der Vergangenheit bei der Unterdrückung liberaler Kräfte hervorgetan. Seine Flucht aus Wien wurde im Berliner Schloss als Warnung verstanden: Ein militärischer Schlagabtausch musste nicht zwangsläufig von Erfolg gekrönt sein. Folglich rang sich Friedrich Wilhelm IV. dazu durch, die volle Pressefreiheit und eine Verfassung für Preußen zu versprechen. Am Morgen des 18. März 1848 wurden diese Zugeständnisse in der Stadt verbreitet. Es war der Tag, an dem politisch aufbegehrende Berliner eine Kundgebung vor dem Schloss vereinbart hatten. Bereits um die Mittagszeit strömten die ersten Menschen zum repräsentativen Bau auf die Spreeinsel.
Der Bürgerkrieg
Da sich die Zugeständnisse der Regierung herumgesprochen hatten, war von einer angespannten Stimmung auf dem Schlossplatz zunächst nichts zu spüren. Stattdessen brach großer Jubel aus, als sich Friedrich Wilhelm IV. auf dem Balkon seiner Residenz der Menge zeigte. Staatsminister von Bodelschwingh verlas die Zugeständnisse der Regierung. Alles schien sich in Wohlgefallen aufzulösen. Doch dann bemerkten Demonstranten die zahlreichen Soldaten in der Nähe des Schlosses. Unruhe machte sich breit. In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder blutige Zwischenfälle zwischen Zivilisten und Militärs gegeben. Sprechchöre gegen die Soldaten wurden angestimmt. Hier und da kam es zu Tumult. Dies veranlasste den König schließlich, die Räumung des Platzes zu befehlen. Die Soldaten der Kavallerie zückten ihre Säbel und begannen mit der gewaltsamen Auflösung der Versammlung. Panik brach aus. Die Menschen flohen in die umliegenden Straßen und errichteten in aller Eile Barrikaden. Soldaten, welche die Hindernisse wieder abbauen sollten, wurden von den umliegenden Fenstern und Häuserdächern mit allen erdenklichen Wurfgeschossen attackiert. Neue Sperren entstanden. Eine dieser Barrieren versuchte Ernst Zinna zu verteidigen. Der Bürgerkrieg tobte: Über 14 Stunden bekriegten sich geschätzte 4000 bis 10000 Zivilisten und 12000 Soldaten.
Friedrich Wilhelm IV. suchte schließlich die Deeskalation. Er ließ eine Proklamation „An meine lieben Berliner“ verbreiten, in welcher er seine Verhandlungsbereitschaft betonte und den Rückzug der Soldaten versprach. Die Aufständischen akzeptierten das Angebot des Monarchen. Die Kämpfe wurden eingestellt.
Berlin nach den Unruhen
Tatsächlich zeigte die Regierung ihren Versöhnungswillen. Sie amnestierte alle politischen Gefangenen und hisste auf dem Schloss sogar die schwarz-rot-goldene Flagge der Barrikadenkämpfer.
Die ehemaligen Aufständischen organisierten am 22. März einen Trauerzug für ihre erschossenen, erstochenen oder erschlagenen Freunde und Bekannten. Unter den 183 Toten befand sich auch Ernst Zinna. Er wurde vom Gendarmenmarkt zum Friedhof in den Friedrichshain getragen. Dieser lag damals noch außerhalb der Stadtmauern und sollte in den folgenden Jahren zu einem zentralen Erinnerungsort der Berliner Märzrevolution werden. Der Trauerzug selbst kam einer politischen Machtdemonstration gleich. Nicht von ungefähr führte die Route am Stadtschloss vorbei. Hier sah sich Friedrich Wilhelm IV. gezwungen, den Toten seine Ehre zu erweisen.
Der kurze Bürgerkrieg forderte letztlich zirka 300 Menschenleben. Viele Berliner erlagen erst in den Tagen nach den Unruhen ihren Verletzungen. Unter den Toten befanden sich um die 60 Militärs. Für sie wurden Gräber auf dem Invalidenfriedhof ausgehoben.
Die Zugeständnisse der Monarchie animierten zahlreiche Menschen, ein politisches Engagement an den Tag zu legen. Schriften, die in die Hunderte gingen, wurden verfasst und ungezählte Veranstaltungen luden zum politischen Debattieren ein.
Auf der höheren politischen Ebene manifestierte sich der Wandel durch die Wahl einer konstituierenden preußischen Nationalversammlung. Dabei erinnerte der Wahlmodus an US-amerikanische Prozeduren, zumal auch hier Wahlmänner zwischengeschaltet wurden. Das Ergebnis der Auszählungen führte erwartungsgemäß zu einer Sitzverteilung mit vielen liberalen Abgeordneten. In der Konsequenz verfasste die Nationalversammlung mehrere Resolutionen, welche die Monarchie in ihrer bisherigen Form in Frage stellten: Es wurden das Gottesgnadentum des Königs kritisiert und die Unterordnung der Armee unter eine zukünftige Verfassung gefordert. Der Widerstand des Königs wuchs und zwang zu Kompromissen. Überarbeitungen folgten, welche ihrerseits Diskussionsbedarf provozierten. Folglich wurde die seit September im Konzerthaus auf dem Gendarmenmarkt tagende Nationalversammlung nur ansatzweise ihrer Rolle als Reformmotor gerecht. Während hinter klassizistischen Fassaden das Bürgertum debattierte, erfuhren die Arbeiter und Handwerker, die immerhin das Gros der Barrikadenkämpfer gestellt hatten, keine ökonomischen Verbesserungen. Dementsprechend frustriert reagierten viele. Sie fühlten sich weder vom konservativen Königshaus noch vom liberalen Bürgertum vertreten. Schriften, die in dieser Zeit beispielsweise Karl Marx verfasste und die den politischen Kampf der Arbeiterschaft unterstützten, fanden dagegen eine immer größere Resonanz.
Die Nationalversammlung verlor bezeichnenderweise kontinuierlich an politischem Gewicht. Von der Monarchie nicht wirklich akzeptiert, von den meisten ehemaligen Barrikadenkämpfern als keine große Hilfe wahrgenommen, erfolgte ihre plötzliche Auflösung am 9. November 1848 nahezu ohne Tumult. Das Könighaus hatte die Auflösung beschlossen und beorderte zur Sicherheit General von Wrangel in die Stadt. Er sollte mit seiner Armeeeinheit Ruhe und Ordnung garantieren. Ein zweiter Bürgerkrieg brach trotz des Protestes der Abgeordneten nicht aus.
Stattdessen bemühte sich eine kleine Gruppe gegen Ende des Monats, die Nationalversammlung in der Stadt Brandenburg an der Havel neu zu etablieren. Dieser Versuch scheiterte kläglich und am 5. Dezember erfolgte die endgültige Auflösung.
Mehrere Dutzend politisch denkende Menschen verließen nun das Land. Diejenigen, die diesen Schritt nicht gingen, wurden vom Staat bespitzelt. Sie mussten akzeptieren, dass bei jeder politisch motivierten Veranstaltung ein Polizist zugegen war, die Pressefreiheit Einschränkungen erfuhr und selbst das Schmücken von Gräbern getöteter Märzrevolutionäre Strafen nach sich ziehen konnte.
Der Symbolwert Ernst Zinnas und der anderen getöteten Märzrevolutionäre stellte folglich auch in den ersten Jahren nach dem Aufstand eine Bedrohung für den preußischen Staat dar. Ob Ernst Zinna das ahnte, als er am 18. März den Säbel seines Großvaters griff und entschlossen zur Barrikade in die Jägerstraße eilte?
Die Märzrevolution des Jahres 1848
Die Märzrevolution war der Versuch eines politisch heterogenen Bündnisses, Widerstand gegen die Machtdominanz des Adels zu organisieren. Eine Verfassung sollte politische Mitsprache und Rechtstaatlichkeit ermöglichen. Ausgelöst durch politische Unterdrückung und eine Wirtschaftskrise, radikalisierten sich Teile des Bürgertums, der Arbeiterschaft und des Bauernstandes. Die Revolutionsbewegung erreichte alle deutschen Staaten, wobei ihre Zentren in Baden, Bayern, Österreich, Preußen und Sachsen lagen. Als überregionales Ergebnis erzwangen die Aufständischen freie Wahlen zur deutschen Nationalversammlung. Sie tagte ab Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche und erarbeitete eine Verfassung. Neben der Verankerung von Grundrechten war eine konstitutionelle Monarchie für ein deutsches Reich geplant. Den Fürsten gelang es jedoch, ihre militärische und politische Macht zu reorganisieren. Das Parlament wurde aufgelöst und republikanische Bewegungen gewaltsam bekämpft. Der Grund für den Erfolg des Adels korrespondierte mit der Furcht des wohlhabenden Bürgertums vor den aufständischen Arbeitern, Bauern und Kleinbürgern. In der Folge kam es immer häufiger zu Kooperationen zwischen Bürgertum und Adel. Die Revolution war gescheitert.
Berlin, den 25. April 2008 / Nicht erschienen