Suhrkamp 2008
Bereits in der Ausgabe Winter 2009 besprach der Stachel das Buch Postdemokratie. Die Publikation ist aktueller denn je, wie die politische Entwicklung der letzten Monate zeigt.
Ministerpräsident Roland Koch hatte irgendwann kein Interesse mehr daran, das Land Hessen zu regieren. Es zog ihn in die Wirtschaft und so sagte er ohne den Anflug schlechten Gewissens leise servus. Die Bewohnerinnen und Bewohner Hessens hatten ihn zwar gewählt, doch ihr Aufschrei der Entrüstung blieb aus.
Für den Politikwissenschaftler Colin Crouch ist ein solches Verhalten typisch für einen postdemokratischen Staat. Auf der einen Seite stehen Politiker im Sog der Wirtschaft, auf der anderen Seite finden sich politisch apathische Bürgerinnen und Bürger. Sie werden aufgefordert, alle paar Jahre zu den Wahlurnen zu schreiten, um der Welt den Anschein einer Beteiligung am politischen Geschehen vorzugaukeln. Dabei sind die Wahlkämpfe, nach Colin Crouch, lediglich ein Spektakel, in dem konkurrierende Teams von professionellen PR-Strategen Debatten vorgeben. Die Mehrheit der Bevölkerung bleibt außen vor. Sie verhält sich passiv, reagiert allenfalls auf die Themenvorgaben der PR-Strategen oder wendet sich ganz ab. Die geringen Wahlbeteiligungen der vergangenen Jahre sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache.
Aber warum sollte sich die Bevölkerung auch engagieren? Hinter verschlossenen Türen findet, so Colin Crouch, die reale Politik statt. Dort würden die alles entscheidenden Treffen der Regierenden mit den Lobbyisten der Wirtschaft stattfinden. Dabei würde den Politikerinnen und Politikern eingetrichtert, dass eine bedingungslose Unterstützung der Wirtschaft entscheidend für das Allgemeinwohl sei. Doch dem ist tatsächlich nicht so, denn der Markt ist zuvorderst gewinnorientiert und hat daher mit der Fürsorgepflicht des Staates wenig am Hut. Dennoch breitet sich der Markt immer weiter aus und übernimmt allmählich auch öffentliche Bereiche. Als Folge wird der Wohlfahrtsstaat Schritt für Schritt abgeschafft, Sozialleistungen gekürzt. Gleichzeitig scheint es aber Gesetz, den Markt nicht zu kritisieren. Die Botschaft lautet: Der Markt reguliere sich selbst und mache somit alles richtig. Die Parteien seien dagegen die Unkompetenten. Wenn der Markt also angeblich ohne Alternative ist und parallel die Politik bestimmt, warum sollen die Menschen dann überhaupt noch zur Wahl gehen? Mitgestalten können sie ja nicht. Selbst die Politikerinnen und Politiker reagieren letztlich nur noch auf den Markt. Zuletzt ist das besonders dadurch aufgefallen, dass sie Bankenrettungen oder die Finanzkrisenbewältigung diskutierten.
Vor diesem Hintergrund wünscht sich Colin Crouch eine neue politische Bewegung. Sie soll die Dominanz der marktorientierten Eliten brechen. In der Vergangenheit hätten die Frauenbewegung und die ökologische Bewegung das politisch Etablierte erschüttert. Nun bräuchte es wieder einen Neuanfang. Die Proteste gegen die Abrissmaßnahmen und Umbauten des Stuttgarter Hauptbahnhofes können durchaus als ein Ausdruck des erstarkenden Widerstandes gewertet werden. Denn längst geht es vielen Protestierenden nicht mehr nur um den Bahnhof selbst. Sie protestieren zuvorderst gegen die Arroganz der Macht. Sorge bereitet Colin Crouch, dass die Unzufriedenheit und Ohnmacht gegenüber den politischen Verhältnissen von extremistischen Gruppen ausgenutzt werden könnte. Dabei verweist er auf das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die den politisch Heimatlosen Antworten und Zukunftsoptionen offerieren würden. Hierzulande konnte ein Thilo Sarrazin mit diskriminierenden Äußerungen tatsächlich seine Popularität extrem steigern. Aus Mitmenschen machte er wieder Ausländer. Eine Vokabel, die längst ausrangiert schien und nun leider Renaissance feiert. Insofern eine spannende Diagnose der westlichen Gesellschaft, die mit Blick auf das Jahr 2010 und die ersten Monate 2011 nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat.
Berlin, den 16. Dezember 2010 / Erschienen im Stachel Frühjahr 2011 www2.frieke.de/uploads/stachel_a3_2011_02.pdf