Auf der Suche nach Europa

Thasos ist die nördlichste griechische Insel. Sie ist beliebtes Ziel sonnenhungriger Touristen. Doch Thasos hat mehr zu bieten als kristallklares Wasser und saubere Strände. Reiseeindrücke von Alexander Jossifidis

Die kleine Pension liegt abseits der Touristenorte auf einem Berg im Süden der Insel. Am Tage hat man von hier aus einen sagenhaften Blick auf die schroffe Küstenlandschaft und das tiefblaue Meer. Doch mittlerweile ist es sternenklare Nacht und vor der Tür sind seltsame Geräusche zu hören. Nach einigen Minuten des in die Nacht Hörens ist es Gewissheit. Es sind Schlangen. Wohl mehrere Schlangen und wahrscheinlich auch sehr große Schlangen. Sie tummeln sich vor der Tür. Oder vielleicht schon im Zimmer? Ein ungutes Gefühl vermischt sich mit der Faszination für diese Tiere. Ein Urlaub mitten in der Natur. In diesem Fall sucht jedoch nicht der Urlauber die Natur, sondern die Natur den Urlauber. Am nächsten Morgen, nach einer unruhigen Nacht, ist von den Schlangen nichts mehr zu sehen.

 

Der Balkan zu Gast auf Thasos

 

Dafür fallen nun Schlangen ganz anderer Art ins Auge. Eine enge und kurvenreiche Küstenstraße umrundet die Insel. Stoßstange an Stoßstange schieben sich Autos aus aller Balkan Länder von Strandbucht zu Strandbucht. Die Pensionswirte und Tavernenbesitzer haben sich darauf eingestellt. Wo einst deutsche, österreichische oder niederländische Fahnen im warmen Wind wehten, sind es nun bulgarische, serbische oder rumänische Hoheitszeichen. Das Stuttgarter Studentenpaar ist ersetzt durch das aus Sofia, die Bochumer Familie durch die aus Bukarest. Thasos ist für Mitteleuropäer nur noch ein Ziel von vielen auf der Welt. Für die Menschen der Balkanländer hingegen ein kleines Paradies beinahe vor der Haustür. „Allerdings ist mit den Touristen aus den Nachbarstaaten nicht allzu viel Geld zu verdienen“, klagt ein Wirt in fließendem Deutsch und in einer überraschenden Offenheit. Sie würden sehr gewissenhaft auf ihr Geld achten und nicht allzu viel ausgeben. Für den Wirt eine wichtige Erkenntnis, denn er lebt, wie die Mehrheit der Inselbewohner, fast ausschließlich vom Tourismus.

 

Ein Teil Ägyptens

 

Bevor Thasos vom Tourismus entdeckt wurde, prägte Armut die Insel. Sie besaß eine nur rudimentär existierende Infrastruktur. Es gab ein wenig Marmorabbau, der noch in der Antike den Reichtum der Insel begründete, Landwirtschaft und Fischfang. Zu wenig, um die Menschen an ihre Heimat zu binden. Ganze Dörfer verfielen. Bergdörfer wie Megalo und Mikro Kazaviti, die im Nordwesten der Insel liegen. Sie sind nur einen Steinwurf voneinander entfernt und umgeben von urwüchsigen Wäldern und schroffen Bergen. Als sie so gut wie aufgegeben waren, entdeckten deutsche Touristen die verfallende Schönheit der dortigen Gebäude. Sie sanierten sie und machten aus ihnen reizvolle Sommerhäuser. Megalo und Mikro Kazaviti sind heute kleine architektonische Perlen und zählen zu den schönsten Dörfern der Insel. Von hier aus lässt sich auf neu angelegten Wanderwegen die wilde Natur erobern. Oder man setzt sich auf den einladenden Dorfplatz von Megalo Kazaviti unter mächtige Platanen und hört bei einem Kaffee Frappe den Geschichten der Dorfbewohner zu. Eine erzählt, dass der Dorfplatz angeblich zu Ägypten gehöre. Die Platia mit ihren Schatten spendenden Platanen ein griechischer Tahrir-Platz? So ganz glaubwürdig erscheint diese Geschichte nicht. Fakt ist, dass Thasos tatsächlich eine Zeit lang zu Ägypten gehörte. Der Albaner Muhammad Ali Pascha, Begründer der bis 1953 regierenden ägyptischen Königsdynastie, kam aus dem benachbarten Kavala. Im osmanischen Militärdienst stehend, konnte er für die Osmanen zahlreiche Schlachten erfolgreich schlagen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt er aufgrund dieser Leistungen den Titel eines ägyptischen Vizekönigs, dem auch die Insel Thasos überantwortet wurde. Als das Lehen für Thasos im Jahr 1902 wieder direkt an den osmanischen Staat ging, soll aus nicht bekannten Gründen die Platia von Megalo Kazaviti davon ausgenommen worden sein. Der Dorfplatz also der nördlichste Punkt Ägyptens?

 

Im Dorf des Evangelisten Johannes

 

Der Spur Muhammad Ali Paschas folgend besuchen wir ein weiteres Bergdorf. Es heißt Theologos und liegt in der Südhälfte der Insel. Im Kindesalter hatte Muhammad Ali hier bei einer Pflegefamilie gelebt. Als Zeichen seiner Zuneigung Theologos gegenüber ließ er es später zur Hauptstadt der Insel erklären. Benannt ist Theologos wiederum nach dem Evangelisten Johannes, der den Beinamen der Theologe trägt. Er soll einer weiteren Legende zufolge in der Nähe gelebt haben.

Heute ist das auffallend lang gezogene Theologos ein überaus touristisch geprägtes Bergdorf. Anziehungspunkt sind die zahlreichen Häuser im traditionellen Stil der Insel. Charakteristisch präsentieren sie sich mit Schieferplatten gedeckten Dächern. Wer möchte, kann in einem kleinen Heimatmuseum auch einmal hinter die Mauern eines solchen Hauses schauen. Der Tourismus, der ein so geschichtsträchtiges wie malerisches Dorf in den Sommermonaten prägt, hat leider auch seine negativen Spuren hinterlassen. Man möchte beispielsweise gerne wissen, was passiert ist in jenem Geschäft, vor dem auf Deutsch geschrieben steht, dass Holländer unerwünscht seien. Oder wie es dazu kam, dass im Dorf traditionelle Hochzeiten als Show präsentiert werden. Braut, Bräutigam, Musizieren, Tanzen, Lachen: Das alles ist Show. Vielleicht ist es, wenn die Hochzeitsgesellschaft in den Tavernen das glückliche Brautpaar feiert, irgendwann egal, ob es tatsächlich geheiratet hat oder nicht. Der Ouzo schmeckt und die Ziegenkopftrophäen an den Wänden der Tavernen wirken auf einmal auch nicht mehr so archaisch.

 

Insel der Ruhe

 

Dem touristischen Trubel entweichen, das ist auf Thasos zum Glück ganz einfach. Fernab der quirligen Touristenorte an der Küste und im Hinterland gibt es noch viele einsame Regionen zu entdecken. Alleine die Südküste bietet gegen Abend, wenn sich das Geschehen von den Stränden in die Dörfer und Ferienanlagen verlagert, romantisch anmutende einsame Buchten. Beim Blick auf das Meer, das von der untergehenden Sonne in ein leichtes rosa getaucht wird, kommt einem dann vielleicht folgende Legende in den Sinn. Ein junger Mann namens Thasos war vor Urzeiten über das Meer, aus dem weit entfernten Phönizien, auf die Insel gekommen. Hier hoffte er seine Schwester Europa zu finden, die zuvor der Göttervater Zeus in Gestalt eines Stieres entführt hatte. Thasos gefiel es so sehr auf der grünen Insel, dass er beschloss, seine Suche zu beenden und heimisch zu werden. Dies ist zwar nur eine weitere Legende, doch mit einem wahren Kern. Die Insel lädt zum Verweilen ein.

 

Steckbrief Thasos:

Thasos liegt zirka acht Kilometer vor der nordgriechischen Festlandsküste. Es gehört zur Region Makedonien und zählt 15.000 Einwohner. Hauptstadt ist der Küstenort Limenas. Hier kommen die meisten Fähren vom Festland an. Mit einer Fläche von 380 qkm ist Thasos die zwölftgrößte griechische Insel. In einer ausgeprägten Mittelgebirgslandschaft erreicht der höchste Berg, der Ypsario, 1204 Meter. Die Insel ist auffallend grün, auch wenn der ursprüngliche Waldbestand durch zahlreiche Waldbrände dezimiert wurde.