Kurzurlaubern bietet die alte polnische Hauptstadt viel Spannendes – nicht nur im jüdischen Viertel.
Einer der Wege nach Krakau führt über Berlin-Lichtenberg. Am dortigen Bahnhof wird der Nachtzug mit Endpunkt Kiew bereitgestellt. Wir entscheiden uns für diese klassische Variante, auch wenn sie beinahe zwölf Stunden Fahrtzeit und Rangiermanöver während der Nacht bedeutet. In Lichtenberg angekommen, wird prompt ein Klischee bedient: Mehrere Neonazis stampfen grölend in die Bahnhofshalle. Ein vom übermäßigen Alkoholkonsum gezeichneter Glatzkopf präsentiert bemüht stolz sein «White Pride»-Hemd und lässt bei dieser Gelegenheit auch noch einen schwarzen Schlagstock sehen. Sein Gebaren scheint einen Streit innerhalb der Gruppe auszulösen. Der findet einen Höhepunkt, als ein weiterer Glatzkopf ohne Vorwarnung dem national gesinnten Trinker mit einem einzigen Faustschlag dessen Bierflasche in der Hand zerschlägt. Wie das möglich sein kann, rätseln wir noch beim Einstieg in den Zug.
Unser Wagon wird zum Glück von Menschen genutzt, die friedlich gestimmt sind: Deutsche, chinesische und polnische Sprachfetzen vermischen sich im Gang zu einem babylonischen Sprachenwirrwarr und rufen Erinnerungen an vergangene Interrail-Reisen wach. Die Abteile sind zwar eng und nicht besonders komfortabel, doch verströmen sie eine gewisse Gemütlichkeit. Nach einer durchgeschüttelten Nacht zeigt Krakau am nächsten Morgen seine Bilderbuchseite: Blauer Himmel bei knackig kalten Temperaturen um die minus fünf Grad Celsius.
Die für den Erstbesuch interessanten Viertel sind vom Hauptbahnhof allesamt innerhalb eines kurzen Fußmarsches erreichbar. Wir entscheiden uns für ein günstiges Hotel im jüdisch geprägten Stadtteil Kazimierz.
In der einstmals selbstständigen Gemeinde fallen zahlreiche Synagogen auf. Von diesen dient allerdings nur noch ein unscheinbares Gebäude seiner Bestimmung als Gotteshaus. Die prächtige «Alte Synagoge» beherbergt beispielsweise ein Museum, während die unweit gelegene «Tempel Synagoge» für Konzerte genutzt wird. An verwitterten Fassaden finden sich noch immer verblichene Werbehinweise jüdischer Gewerbetreibender. Das Viertel lädt daher zu einer Spurensuche ein, zumal mehrere Straßenzüge noch immer der behutsamen Sanierung harren und die Zeit hier und dort still zu stehen scheint.
Mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges erlosch das jüdische Leben Krakaus beinahe komplett. Unter den wenigen Überlebenden befand sich der spätere Regisseur Roman Polanski, der im südlich der Weichsel gelegenen Stadtteil Podgórze aufwuchs. Dort richteten die damaligen Machthaber das Ghetto Krakau ein. In unmittelbarer Nachbarschaft besaß wiederum Oskar Schindler seine Emaille-Fabrik. Die durch Steven Spielbergs Film «Schindlers Liste» bekannt gewordene Anlage «Emalia» in der Lipowa Straße soll in diesem Jahr mit einem Informationszentrum ausgestattet werden.
Besonders traurig stimmt wiederum eine Mauer auf dem Neuen Jüdischen Friedhof von Kazimierz. Sie besteht aus Grabsteinen, die von den nationalsozialistischen Besatzern als Straßenpflaster bestimmt worden waren. Das Schicksal der vom NS-Apparat verfolgten Menschen und die Zerstörung ihrer Kulturgüter macht es daher unbegreiflich, dass ausgerechnet in Kazimierz Schmierereinen von an Galgen hängenden Davidsternen auffallen. Hierfür scheinen Anhänger der beiden lokalen Fußballclubs «Wisla» und «Cracovia» die Verantwortung zu tragen. Häuserwandgraffiti in der Nähe, die einen Bezug zur Fußball-Fanszene aufweisen, lassen dies vermuten.
Während das im sozialistischen Krakau vernachlässigte und düster wirkende Kazimierz erst in den vergangenen Jahren eine Renaissance erfuhr, galt die Altstadt schon immer als die gute Stube der Stadt. Sie wird von einem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Marktplatz dominiert, der gewaltige 40.000 Quadratmeter misst. In seiner Mitte thront eine Tuchhalle aus dem 16. Jahrhundert. Hier lassen sich all die liebenswerten und doch so unwichtige Dinge des täglichen Lebens erwerben, von Holzschwertern bis zu Schachspielen. Ein weiteres, den Marktplatz bestimmendes Bauwerk, bezeichnet die imposante Marienkirche, die einen nicht weniger imposanten Hochaltar aus dem 15. Jahrhundert ihr Eigen nennt. Dieser gilt als ein Meisterwerk spätgotischer Kunst und wurde vom damaligen Bildhauergenie Veit Stoß erstellt. Weilt der Besucher zur vollen Stunde vor der Marienkirche auf dem Marktplatz, dann kann er ferner das aus dem Mittelalter stammende und damit älteste regelmäßig vorgetragene Musikstück der Welt auf sich wirken lassen. Es handelt sich dabei um ein Trompetensignal, das ein Trompeter von einem der beiden Marientürme bläst. Sein abruptes Ende fällt auf und provoziert Fragen. Einer Legende zufolge soll das Signal ursprünglich ein Warnsignal vor angreifenden Tartaren gewesen sein: Der tapfere Stadt-Trompeter spielte es so lange, bis ihm ein tödlicher Pfeil den Hals durchbohrte.
Überhaupt ist Krakau reich an Legenden und daher verwundert es kaum, dass die zahlreichen und unermüdlich gurrenden Tauben im Altstadtbereich verzauberte Ritter sein sollen. Wäre an der Geschichte etwas dran, dann müssten sich die Tiere primär auf dem benachbarten Wawel, einem Hügel mit einer dazugehörigen Burganlage, einfinden. Von hier aus regierten die polnischen Könige über mehrere Jahrhunderte ihr Land. Das gesamte Areal gilt als eine der weltweit schönsten Burganlagen. Sie hat, auch wenn das auf Anhieb nicht ersichtlich ist, selbst für Hindus eine mehr oder weniger zentrale Bedeutung: Deren Gott Shiva schleuderte vor Urzeiten sieben magische Steine auf die Erde, wobei einer im südlichen Polen bei der Burganlage einschlug. Ist es nicht auch wahrscheinlich, dass ein Drache namens Smog in grauer Vorzeit in dem Höhlensystem unter der Burg hauste? Dies ist eine weitere Legende, mit der das altehrwürdige Krakau aufwarten kann.
Sollten mein Besichtigungsprogramm und die zahlreichen Stadtgeschichten hungrig gemacht haben, dann bieten sich Bagel als kleine Zwischenmalzeit an. Die runden Backwaren wurden erstmals hier, im Krakau des 17. Jahrhunderts, hergestellt. Für den großen Hunger zieht es uns wieder nach Kazimierz. Dort werben mehrere Restaurants mit Klezmer-Musik. Wir entscheiden uns schließlich für ein Konzert des Jascha Liebermann Trios: Beschwingt und mit eingängigen Melodien im Ohr steigen wir am nächsten Abend wieder in den Zug nach Berlin-Lichtenberg.
Berlin, den 25. Februar 2008 / Erschienen in der Jüdischen Zeitung Februar 2008 www.j-zeit.de/archiv/artikel.957.html