Jüdische Traditionen auf der afrikanischen Mittelmeerinsel Djerba
Djerba: Die Vegetation dieser traumhaften Mittelmeerinsel ist geprägt von Palmen, Granatapfel- und Olivenbäumen. Feigenkakteen mit ihren stacheligen Früchten, den Kaktusfeigen, zieren die Wege. Das Klima ist mild und sonnig und die Strände laden zum Badeurlaub ein. Vor allem der nordöstliche Küstenstreifen hat lange Sandstrände.
In der Antike war Djerba als «Insel der Lotosesser» bekannt. Von 1134 bis 1165 hielten die Normannen Djerba besetzt. 1154 schlugen sie einen Aufstand der Bewohner blutig nieder. Von 1524 bis 1551 war Djerba ein Hauptstützpunkt der türkischnordafrikanischen Korsaren unter Turgut Reis.
Die kleine jüdische Gemeinde der Insel feiert alljährlich das Lag-ba-Omer-Fest. Grund genug für uns, als Gäste des riesigen Festes auch das Zusammenleben von Juden und Muslimen zu betrachten.
Schon bei der ersten Besichtigung der zahlreichen Altstadtgassen, der in einem freundlichen Weiß gehaltenen und von gut 65.000 Menschen bewohnten Inselhauptstadt Houmt Souk, stellt sich uns unvermittelt ein Fremder in den Weg. Er trägt ein typisches Touristenoutfit, ist mit einer Kamera bewaffnet und wäre im Gedränge nicht weiter aufgefallen. Als er auf Anfrage erfährt, dass hier deutsche Medienvertreter über das jüdische Leben vor Ort berichten wollen, verschlechtert sich sein Gemütszustand. Ein grimmiger Blick trifft unseren lokalen Begleiter. Gereizt und in einem provokativen Ton will der Fremde von uns wissen, ob unser Betreuer unaufhörlich vom guten Verhältnis zwischen Juden und Muslimen schwadronieren würde. Auf die Gegenfrage, ob dem denn nicht so sei, gibt es keine glaubhafte Antwort. Sarkastisch behauptet der Mann im Touristenoutfit, Buddhist zu sein, um anschließend grußlos weiter zu ziehen.
Tatsächlich wirkt auf Djerba vieles idyllisch. Ist es das auch wirklich? Die weiß getünchten Häuser mit ihren blauen Fensterrahmen und schattigen Innenhöfen versprühen eine mediterrane Leichtigkeit. Selbst die gigantischen Hotelanlagen, die insgesamt 42.000 Touristen aufnehmen können, ragen nie höher als die grazilen Palmen der Insel in den tiefblauen Himmel. Von Hektik auf den Straßen keine Spur. Freundliche Geschäftstreibende, die Gewürze, Souvenirs, Schmuck und Kleidung verkaufen und dabei nie aufdringlich wirken. Politischer Extremismus scheint hier völlig fehl am Platze.
Dennoch wird von offizieller Seite und bei jeder sich bietenden Gelegenheit, das harmonische Zusammenleben der beiden Religionsgemeinschaften betont. Liegt in der häufigen Wiederholung eine andere Botschaft versteckt? Die auffallende Polizeipräsenz auf der Insel scheint diese Vermutung zu bestätigen.
Auf Djerba leben rund 1.200 der etwa 3.000 tunesischen Juden. Sie sind die Letzten der einstmal gut 105.000 Köpfe zählenden jüdischen Gemeinschaft, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Leben in der Ferne suchte und vor allem nach Israel und Frankreich auswanderte. Dieser Aderlass ist vor dem Hintergrund einer 2.600 Jahre alten jüdischen Geschichte in der Region besonders bedauernswert. Die Juden Djerbas verstehen sich als Nachfahren jener Flüchtlinge, die infolge der Zerstörung Jerusalems durch Babylons König Nebukadnezar eine neue Heimat suchten und auf der Insel fanden. Dabei kamen sie in Kontakt mit lokalen Berberstämmen, von denen einige geschlossen zum Judentum konvertierten. Eine weitere Zuwanderungswelle folgte in der frühen Neuzeit. Auf der Iberischen Halbinsel forcierten die dortigen christlichen Monarchen die Vertreibung von Juden und Muslimen, woraufhin viele jüdische Spanier und Portugiesen auch in Nordafrika Zuflucht fanden. Als Händler und Schmuckhersteller gelangten einige von ihnen zu Reichtum und Ansehen. Auf Djerba waren es vor allem die jüdischen Gemeinden Hara Seghira und Hara Kebira, die ein reges Geschäftsleben entwickelten.
Mit der Epoche des Imperialismus fiel die Insel an französische Kolonialherren. Den Bewohnern war es fortan möglich, die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben, ein Grund mehr dafür, das tunesische Juden in der Folgezeit nicht nur bevorzugt nach Israel sondern auch nach Frankreich emigrierten. Eine solche Auswanderung ging mit politischen und ökonomischen Drangsalierungen in dem seit 1956 unabhängigen Tunesien einher. Ferner erzeugte der fortdauernde israelisch-arabische Konflikt Bedrohungsgefühle, denen sich zahlreiche tunesische Juden durch Emigration zu entziehen versuchten. In diesem Kontext sei daran erinnert, dass die PLO ihr Hauptquartier nach der Vertreibung aus dem Libanon in der tunesischen Metropole aufschlug.
Bedroht fühlt sich heutzutage anscheinend niemand mehr auf Djerba. Jüdische Gesprächspartner versichern wiederholt die große Zufriedenheit mit den Lebensumständen. Ihre muslimischen Nachbarn seien stets um einen freundschaftlichen Umgangston bemüht: «In Paris ignorieren sich Juden und Muslime. Auf Djerba ist so etwas nicht denkbar», behauptet eine mollige Frau im alten jüdischen Quartier von Houmt Souk. Wie zum Beweis deutet sie auf das angrenzende Haus. «Dort leben Muslime, mit denen wir uns im Alltag regelmäßig austauschen.» Während des Gesprächs gesellen sich bullige Sicherheitsbeamte in Zivil zu uns Journalisten. Nicht unbedingt der Indikator für ein entspanntes Zusammenleben im Viertel.
Mein muslimischer Interviewpartner in der Altstadt, Verkäufer von Bauchtanzmoden, betont freimütig, dass die Politik Israels gegenüber den Palästinensern endlich verändert werden müsse. Der dortige Umgang mit dem palästinensischen Volk sei auch für die Muslime Djerbas ein wunder Punkt.
Zusätzlich zum Nahostkonflikt ist die konservative Grundeinstellung vieler Inselbewohner verantwortlich dafür, dass die oft beschriebene Freundschaft zwischen Juden und Muslimen mir lediglich als reines Lippenbekenntnis erscheint. Eheschließungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften sind nicht erwünscht und kommen somit kaum vor. Höflichkeiten werden ausgetauscht, mehr nicht. Bei dem Besuch einer staatlichen Schule in der Inselhauptstadt wird dies mehr als deutlich: Ein jüdisches Mädchen berichtet, dass die Eltern ihr verbieten würden, Umgang mit muslimischen Altersgenossen außerhalb der Schule zu pflegen. Ein Einzelfall? Zwar bemüht sich die Schulleitung redlich, eine gemeinsame tunesische Identität, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, bei den Heranwachsenden zu wecken, muss allerdings eingestehen, dass Ressentiments in den Elternhäusern schwer zu beeinflussen sind. «Auf dem Schulgelände lassen wir nicht zu, dass zwischen muslimischen und jüdischen Kindern unterschieden wird. Für das, was später in den Elternhäusern diskutiert wird, können wir dann leider keine Verantwortung mehr übernehmen», bemerkt die Direktorin der Lehranstalt leicht resigniert.
Das Nebeneinander statt eines Miteinanders wird auch während des Laghba-Omer-Festes augenfällig. Bei einem stimmungsvollen Umzug von der Synagoge La Ghriba in den kleinen Ort Erriadh feiern die Pilger ausgelassen. Die muslimischen Nachbarn stehen dagegen zumeist stumm und mit ernsten Minen am Straßenrand. Andere gehen hinter Straßensperren der Polizei ihrem Tagesgeschäft nach und kümmern sich nicht um das Geschehen.
Das Lag-ba-Omer-Fest selbst wird 33 Tage nach Passah gefeiert. Ausgangspunkt ist die Synagoge La Ghriba. Sie wurde im April 2002 Ziel eines blutigen Anschlages und kann daher erst nach drei Straßenkontrollpunkten und einer Sicherheitsschleuse betreten werden. Als eine der ältesten Synagogen der Welt besitzt sie eine für das Judentum zentrale Bedeutung. Daher reisen zum Lag-ba-Omer-Fest jährlich mehrere tausend Pilger aus Israel, ganz Europa und Nordamerika an. Der Präsident des «Comité de la Ghriba», der Dachorganisation der tunesischen Juden, Perez Trabelsi, spricht auf einer Pressekonferenz von 6.000 Besuchern, die er allein in diesem Jahr zum Fest erwarte. Für die Zukunft plane er jedoch eine höhere Zahl und thematisiert die Konzeption einer direkten Flugverbindung zwischen Tel Aviv und Djerba. Deutsche Juden würde er ebenfalls sehr gerne in La Ghriba begrüßen. Daher sei er nach Berlin gereist, um Werbung für die Synagoge und das Fest zu machen. Der Anschlag vom 11. April 2002, der mit 14 Opfern zuvorderst deutsche Urlauber traf, sei, seiner Meinung nach, lediglich ein «bedauerlicher Zwischenfall» gewesen, der überall auf der Welt hätte geschehen können. Dabei war ein Lastwagen, der mit 5.000 Litern Flüssiggas beladen war, gegen die Synagoge gerast und explodierte. Die tunesische Regierung sprach bei den Bildern, die seinerzeit um die Welt gingen, zunächst von einem Unfall, doch internationale Experten gingen sehr schnell von einem Terroranschlag aus. Drei Monate später bekannte sich Al-Qaida zu der Tat. Ein Gedenkort, der an die 21 Toten des Attentats erinnern könnte, findet sich übrigens bis heute nicht auf dem Gelände.
Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Stein des Tempels von Jerusalem, den die ersten Juden Djerbas vor zirka 2.600 Jahren bei ihrer Flucht mit sich geführt haben sollen. Diesen Stein platzierten sie an der Ostseite ihrer Synagoge, der bedeutendsten Afrikas. Elf gibt es insgesamt auf der Insel. In der heutigen Form ist La Ghriba allerdings ein Bauwerk aus dem Jahre 1920. Der wunderschöne Vorraum besitzt hellblaue Rundbögen, die eine freundliche Atmosphäre ausstrahlen. Im anschließenden Hauptraum fallen die zahlreichen Votivtäfelchen auf. Hier befindet sich der Eingang zu einer kleinen Höhle, in der während des Festes mit Namen beschriftete Eier platziert werden. Diese Zeremonie soll Glück bringen. Ferner werden Zettel mit Wünschen beschriftet und hinter eine Glaswand geschoben.
La Ghriba, «die Wundertätige», ist nicht zuletzt Ort zweier Legenden. Die erste Erzählung berichtet von einer gutherzigen und von allen Bewohnern verehrten Frau. Eines Tages zerstörte ein Blitz ihre Behausung. Zur großen Überraschung der Nachbarn fanden sie ihren äußerlich unversehrten Leichnam in einem völlig ausgebrannten Heim. Eine zweite Schilderung erzählt vom Einschlag eines Meteoriten. Gleichzeitig sei eine mysteriöse Frau im Ort erschienen. Sie weissagte, dass der Schlüssel der Synagoge in Richtung Himmel fliegen würde, sollten die Juden jemals Djerba verlassen. Das zweitägige Lag-ba-Omer-Fest soll jedoch weniger an die beschriebenen Legenden erinnern, sondern vielmehr Rabbiner Shimon Bar Yashai würdigen, der vor über 400 Jahren starb. Temperamentvolle Musik begleitet die Versteigerungen von Stofftüchern, Blumen und anderen Gegenständen. Markstände sind aufgebaut und in der Synagoge wird Schnaps gereicht. In angeschlossenen Tavernen können es sich die Gäste gut gehen lassen, Fleischspieße und scharf gewürzte Würstchen brutzeln um die Wette. Immerhin gilt es, mehrere tausend Festgäste zu verköstigen, da liegt Volksfeststimmung in der Luft.
Zum Abschluss eines jeden Tages macht sich eine kleine Prozession auf den Weg zum rund einen Kilometer entfernten Gemeindezentrum von Erriadh, wobei eine der weltweit ältesten Thorarollen mitgeführt wird. Unter Begeisterungsrufen und mit Stoff und Blumenschmuck behangen, wird die Thorarolle zeitweise getragen, dann wieder auf einem kleinen Karren transportiert. Dies alles geschieht unter den wachsamen Augen der schon beobachteten stiernackigen Sicherheitskräfte. Die einen sind martialisch mit Maschinengewehr und Uniform ausgestattet, während die anderen dezent wie klischeehaft mit teurem schwarzen Anzug, Sonnenbrille und Knopf im Ohr das Geschehen begleiten. An größeren Kreuzungen werden Busse quer gestellt, die ein mögliches Autobombenattentat verhindern sollen.
Während dieser Prozession begegnen wir erneut dem grimmigen «Touristen», der uns in der Altstadt von Houmt Souk an der Nordküste der Insel angesprochen hatte. Er wirkt nun viel entspannter und gibt sich als tunesischer Jude zu erkennen, der nach Paris emigriert sei. Zwar lebe er nun in Frankreich, doch seine emotionale Heimat sei nach wie vor Djerba. Wehmütig gibt er uns zu verstehen, dass er sich ein Leben als Jude auf der Insel nicht mehr vorstellen könne. «Hier ist nicht alles so harmonisch, wie es der tunesische Staat gerne sehen würde.» Dann setzt er seine Sonnenbrille auf und verschwindet flugs im Gedränge. Der von fern her hallende Gebetsaufruf des Muezzins vermischt sich für eine kurze Zeit mit der fröhlichen Musik des Umzugs.
Berlin, den 01. Juni 2008 / Erschienen in der Jüdischen Zeitung Juni 2008 www.j-zeit.de/archiv/artikel.1232.html