Über Götter, Geister und Menschen Perus
Die Villa aus dem 19. Jahrhundert liegt etwas versteckt in Barranco, einem südlichen Stadtteil der peruanischen Metropole Lima. Über dem Haus kreisen schwarze Geier, im Garten blühen exotische Pflanzen. Vom nahen Pazifik weht eine angenehme Brise. Juan hat es sich in einem breiten Sessel bequem gemacht. Er ist Ende vierzig, von kräftiger Statur, trägt Freizeitkleidung und ist von Beruf Magier. Sein freundliches Lächeln versprüht wider Erwarten kaum Geheimnisvolles oder Entrücktes. Vielmehr scheint er unsicher, was er alles erzählen soll und was besser nicht. Definitiv möchte er nicht, dass die große Konkurrenz der Hexen und Magier der Stadt Informationen erhält, die aus Neid gegen ihn verwendet werden könnten. Fotos und Namen sind daher tabu. «Gegen schwarze Magie kann man sich nur sehr schwer wehren, vor allem dann, wenn nicht klar ist, wer sie ausführt!»
Juan wurde eher zufällig zum Magier. Zwar interessierte er sich früh für Esoterik und Mystik, doch als Großstadtmensch hatte er zunächst andere Prioritäten. Mit den Curanderos, den Heilern, ließ er sich zunächst nicht ein. Sie kamen vor Jahrzehnten in großer Zahl aus den ländlichen Regionen in die Städte. Sie entstammen Landschaften, in denen die mächtige katholische Kirche fern und die Berggeister nah sind. Umgeben von schneebedeckten Vulkangipfeln oder im Schatten verfallener Pyramiden seien Magie und Hexerei bis heute besonders verbreitet. Juan erlernte seinen Beruf von einem Schamanen, der bei ihm die Begabung entdeckte. Die Kenntnis magischer Formeln und ausgeklügelter Rituale aus der Zeit weit vor der spanischen Eroberung und katholischen Missionierung wurde üblicherweise von Generation zu Generation weitergegeben. Doch es gäbe auch die Möglichkeit, sich das notwendige Wissen anzulernen. «In Europa schmunzelt ihr über uns Magier, doch hier in Peru ist es ein angesehener und offiziell anerkannter Beruf mit Steuernummer, den weit über tausend Menschen ausüben.»
Natürlich beobachte die Kirche das Treiben der Hexen und Magier mit gemischten Gefühlen. Doch habe sich in Peru ein christlicher Glaube herausgebildet, der gerade in ländlichen Regionen Traditionelles integriere. Dort sei es kein Widerspruch, dass Dorfbewohner sowohl die Mutter Gottes als auch die Mutter Erde, die so genannte Pachamama, inbrünstig verehren würden. Doch wer sind die ratsuchenden Menschen in der Millionenstadt Lima? Gehören sie zum ständig wachsenden Heer der Armen aus den Provinzen, die ihre Glaubensvorstellungen mit in die Hauptstadt bringen? «Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die mich aufsuchen», bemerkt Juan nach kurzem Nachdenken und krault dem zu seinen Füßen dösenden Husky freundschaftlich den Hals. «Zunächst einmal kommen Frauen und Männer gleichermaßen zu mir. Sie sind Einwohner aus nahezu allen Stadtteilen Limas und repräsentieren auch alle Alters- und Einkommensschichten.» Immer wiederkehrende Motivationen für einen Besuch seien Fragen zur Liebe, finanzielle und gesundheitliche Sorgen und das genau in dieser Reihenfolge. «Eine Zeremonie, oder sprechen wir lieber von einer Heilungsprozedur, kann unterschiedlich ausfallen, doch hier möchte ich nicht allzu sehr ins Detail gehen.» Dann verrät Juan noch, dass ein Treffen für gewöhnlich unter freiem Himmel am frühen noch dunklen Morgen stattfinde und die anschließende Prozedur bestenfalls bis zum Sonnenaufgang dauern sollte. Als Hilfsmittel bevorzuge er Schwerter, Chonta-Stäbe aus der Chonta-Palme, Tongefäße, so genannte huacos und Schnaps. Sie kämen in komplizierten Ritualen zur Geltung, die ergänzend die Energie der Natur nutzen würden. Zum Abschied empfiehlt Juan eine Reise in das ländliche Peru, in Regionen in denen Quechua und Aymara genau so selbstverständlich gesprochen würden wie Spanisch in Lima. Auf dem Lande wären die Kraft der Natur und die Kultur Perus ganz anders wahrnehmbar als in den staubigen Straßenzügen der kontinuierlich wachsenden Megapolis zwischen Pazifik und Wüste.
Der Nachfahre der Inka
Tausend leuchtende Punkte tanzen durch die rabenschwarze Nacht. Das Rauschen eines reißenden Baches ist zu hören. Ohne eine Taschenlampe wäre jedoch nicht einmal die eigene Hand vor Augen erkennbar. Der zweistündige Aufstieg zu den Ruinen von Machupicchu beginnt um vier Uhr in der Früh. Noch ganz alleine mit sich, den Geistern der Inka und unzähligen Glühwürmchen, geht es stetig bergauf. Bei den ersten Sonnenstrahlen ist das Ziel erreicht und die Ernüchterung groß. Vor den Eingangstoren zur bekanntesten Touristenattraktion des Landes warten bereits mehrere hundert, mit Bussen herangekarrte Menschen auf Einlass. Der verschwitzte und von Tau durchnässte Wanderer erfährt allenfalls mitleidige Beachtung. Muss er sich doch, erschöpft, wie er ist, hinten in die Warteschlange einreihen. Von spanischen Eroberern unentdeckt, umgeben von nebelverhüllten und dicht bewaldeten Bergen, war Machupicchu ein letztes religiöses Zentrum der Inka. Sie bildeten die Herrscherkaste eines Landes, das sie Tahuantinsuyo nannten und dessen geographische Ausdehnung vom heutigen Ecuador und Kolumbien im Norden bis nach Chile und Argentinien im Süden reichte. Hauptstadt dieses mächtigen Staates war Cusco, die einzig erlaubte Staatssprache Quechua. Doch im 16. Jahrhundert begann der Untergang. Spanische Konquistadoren nutzten ihre modernen Waffen und geschicktes Intrigenspiel zur Eroberung des Inka-Reiches. Lediglich Machupicchu entdeckten sie nicht. Dieser Ort geriet im Laufe der Jahrhunderte selbst bei den Nachfahren der Inka in Vergessenheit und so wuchs Gras und Wurzelwerk über eine Anlage in der Dimension einer kleinen Stadt. Das auf 2.400 Metern Höhe gelegene Machupicchu war allenfalls der lokalen Bevölkerung noch ein Begriff. Für die Weltöffentlichkeit entdeckte es im Jahre 1911 der US-amerikanische Archäologe Hiram Bingham. Hier, inmitten imposanter Ruinen und staunender Touristen, bietet sich Freddy als Tourguide an. Er ist Anfang vierzig, stämmig und zeigt gerne sein verschmitztes Lächeln. Für ihn ist Machupicchu, was soviel wie Alter Gipfel bedeutet, mehr als nur eine Ausgrabungsstätte. Es ist ein Stein gewordenes Zeugnis seiner kulturellen Identität. «Was bitte schön soll Peru sein? Es ist nichts!» Freddy droht sich in Rage zu reden, kann sich aber wieder bremsen und lässt ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht huschen. Seine Heimat sei weder der aktuelle Staat noch dessen europäisch geprägte Ordnung. Seine Heimat sei das vergangene Inka-Reich in dessen Grenzen und mit dessen Normen. Die Regenbogenfahne der indigenas sei auch seine. Dass diese Fahne oft mit der Fahne der Homosexuellenbewegung verwechselt würde, empfinde er als große Tragödie. «Homosexuelle gibt es bei uns im Hochland nicht! Die gibt es ausschließlich in Lima», ist er sich sicher und wechselt schnell das Thema. Freddy berichtet auf seinem kurzweiligen Rundgang von der Ehrerbietung seiner Vorfahren der Natur gegenüber und von dem großen astronomischen Wissen der Inka. Tatsachlich fungierte der «Alte Gipfel» als Kultstätte und astronomisches Observatorium gleichermaßen. «Die damaligen Priester konnten mit ihrem inneren Auge sogar mit den Göttern kommunizieren. Pflanzliche Drogen dienten ihnen dabei als Hilfsmittel.» Koka gehöre noch heute zum Leben der Einheimischen. Es sei mehr Medizin, denn eine den Menschen zerstörende Droge. In den Anden wüsste man verantwortungsvoll mit Koka umzugehen. Das sei seine Welt, betont er zum Abschied und greift in ein Beutelchen mit Kokablättern. Dann macht er sich auf den Weg, um auch mit den Göttern in Kontakt zu treten.
Die katholische Kirche
Eine ganz andere Welt eröffnet sich dem Besucher des eindrucksvollen Klosters Santa Catalina. Es bildet in der südperuanischen Millionenstadt Arequipa eine Stadt in der Stadt. Auf 20.000 Quadratmetern Fläche beteten zur Hochphase im 17. Jahrhundert zirka 500 Nonnen hinter den hohen Klostermauern. Reichen spanischen Familien entstammend, durften sie sich Hausangestellte leisten. Ansonsten war es ihnen nicht gestattet, das Klosterareal zu verlassen, geschweige denn, Besuch zu empfangen. Heute wird Santa Catalina von Touristen durchstreift, Straßennamen bieten ihnen Orientierung. Trotz dieses Bedeutungswandels ist die katholische Kirche in Arequipa, wie auch in weiten Teilen Perus, ein wichtiger Bestandteil des sozialen Lebens. Dies betont auch die Nonne Maria Dolores. Die heitere ältere Dame gehört dem religiösen Orden «Esclavas del Sagrado Corazon de Jesus» an. Er gründete sich im Jahre 1877 in Madrid und ist seit 1921 auch in Arequipa vertreten. Damals eröffneten die Schwestern des Ordens in der Stadt eine Schule für mittellose Mädchen. «Unsere Mission beabsichtigt die Reinigung der von der Sünde korrumpierten Welt. Wir versuchen dies durch religiöse Erziehung zu erreichen», erklärt mir Maria Dolores das Ziel ihrer Arbeit. Sie hat zum Abendessen geladen. In einem Aufenthaltsraum des Konvents ist ein langer Tisch gedeckt. Es gibt Landestypisches zu trinken: Die sehr süße und nach Kaugummi schmeckende «Inca Kola» mit ihrer leuchtend gelben Farbe. Das Essen steuert wiederum ein Pizzaservice bei. Neun Schwestern des Konvents haben sich eingefunden. Allesamt sehr aufgeweckte und humorvolle ältere Damen, die erzählen, dass die Schule mittlerweile auf 1.010 Schülerinnen angewachsen sei. Eine Zahl, nur mit der Unterstützung weiterer Fachkräfte zu bewältigen: Insgesamt würden 70 Personen, die sich den Glaubensgrundsetzen des Ordens verpflichtet fühlen, die Schülerinnen betreuen. Nicht ohne Stolz berichten die rüstigen Damen von ihren Mädchen, die nach Abschluss der Schulausbildung nahezu alle den Sprung auf eine Universität schaffen würden. «Doch wir sind auch noch gut beim Basketball. Unser Team hat bereits dreimal hintereinander die peruanische Meisterschaft gewonnen», wird ergänzend eingeworfen. Finanziert wird die Privatschule primär von den Eltern der eingeschriebenen Kinder. Mit einer monatlichen Schulgebühr von umgerechnet 45 Euro sei sie die günstigste Privatschule in ganz Arequipa. Ein Grund, warum so viele Eltern ihren Nachwuchs zu ihnen schicken würden. «Und natürlich weil die bei uns vermittelte Werte-Erziehung eine wahrhaftig christliche Erziehung ist», betont Maria Dolores und zeigt zum Abschied ihr offenes Lächeln.
Die «Neuen Christen»
Zurück in Lima führt eine letzte Stippvisite in den modernsten Stadtteil. Miraflores ist neben der Altstadt ein zweites Aushängeschild der Acht-Millionen-Metropole. Hier schlägt das ökonomische Herz der Stadt. Nationale und internationale Konzerne unterhalten Dependenzen und sind umgeben von gepflegten Wohnquartieren, die in exponierter Lage am Rande einer beeindruckenden Steilküste liegen. Hier befindet sich auch das Zentrum der jüdischen Gemeinde der Stadt. Juden kamen bereits mit den ersten christlichen Spaniern ins Land, als so genannte «Neue Christen», die ihren jüdischen Glauben heimlich pflegten, offiziell aber das Christentum angenommen hatten. Keineswegs freiwillig – es war nötig, um Verfolgungen zu entgehen. Die Mehrheit der heutigen jüdischen Gemeinde entstammte jedoch mitteleuropäischen Einwanderern, die erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nach Peru kamen. Zu ihnen gesellten sich in den darauffolgenden Jahrzehnten jüdische Migranten aus dem arabischen Raum. Heute zählt die jüdische Gemeinschaft Perus knapp 3.000 Menschen. Kontrovers diskutiert wird eine kleine Gruppe indigener Juden: ihre jüdische Identität ist umstritten und teilweise sagenumwoben, wie so viele Legenden zwischen Amazonasbecken und Atacamawüste. Doch so ist nun einmal Peru, eines der facettenreichsten Länder der Welt.
Peru:
Peru bietet circa 30 Millionen Menschen eine Heimat und ist mit einer Fläche von 1.285.216 Quadratkilometern das drittgrößte Land Südamerikas. Es dominieren drei geographische Landschaftsformen: Die relativ dicht besiedelte Pazifikküste mit ihrem Wüstencharakter, das schwer zugängliche Andenhochland mit Höhenzügen von über 6.500 Metern und das artenreiche Amazonastiefland, das 60 Prozent der Landesfläche ausmacht. Die Einwohnerschaft besteht beinahe zur Hälfte aus so genannten «indigenas», Nachfahren der Urbevölkerung, die bereits vor der spanischen Eroberung die Region besiedelte. Hinzu kommen Mestizen, Menschen mit europäischen und indigenen Wurzeln. Ferner leben in Peru nennenswerte Gruppen von europäischstämmigen, chinesischstämmigen und afrikanischstämmigen Menschen. Seit der blutigen Eroberung des Inkareiches durch spanische Konquistadoren im 16. Jahrhundert überdeckt die spanische Kultur überliefertes Brauchtum und religiöse Vorstellungen. Ganz verdrängt wurde beides jedoch nicht. Quechua und Aymara sind neben Spanisch mittlerweile offizielle Landessprachen.
Berlin, 15. September 2009 / Erschienen in der Jüdischen Zeitung am 1. Oktober 2009 www.j-zeit.de/archiv/artikel.2014.html