Am Anfang erinnert ein Stolperstein. Einer jener zehn mal zehn Zentimeter kleinen, aus Beton gegossenen Quader mit eingelassener Messingplatte. Er fällt vor einem tristen Altbau in der Kreuzberger Oranienstraße auf. Die eingestanzte Information erzählt vom Exil nach Shanghai, welches die vormaligen Hausbewohner während der nationalsozialistischen Diktatur antreten mussten. Warum ausgerechnet Shanghai?
Shanghai hatte sich im 19. Jahrhundert zu einem weltweit bedeutenden Handelszentrum entwickelt, in dem vor allem britische, französische und US-amerikanische Kolonialmächte die Entscheidungsgewalt ausübten. Sie beherrschten ganze Stadtteile und nannten diese exterritorialen Viertel International Settlement und Concession francaise. Im November 1937 endete mit der Eroberung durch japanische Truppen endgültig die chinesische Souveränität. Für die nächsten Jahre bestimmten ausländische Staaten das Schicksal Shanghais und seiner Einwohner.
Gleichzeitig gerieten am anderen Ende der Welt jüdische Deutsche und Österreicher durch den nationalsozialistischen Terror in ihrer Heimat in zunehmende Bedrängnis. Auswanderungspläne reiften, doch die Zahl aufnahmewilliger Staaten blieb gering, Schikanen hingegen die Regel. Das von Kolonialmächten verwaltete Shanghai bot mit seinen liberalen Einreisebestimmungen eine Ausnahme.
Circa 18.000 Verzweifelte emigrierten vor diesem Hintergrund in die Stadt am Huangpu. Sie erreichten zumeist auf dem Schiffsweg eine Gemeinde, in der bittere Armut aber auch unerhörter Reichtum das Stadtleben prägten.
Das Gros der Neuankömmlinge fand im nördlichen Innenstadtbezirk Hongkou eine neue Bleibe. Hier gab es schon bald deutschsprachige Geschäfte und wer wollte, konnte in einem deutschsprachigen Kaffeehaus die von Exilanten herausgegebene Zeitschrift Gelbe Post oder die SZ am Mittag, die Shanghaier Zeitung am Mittag lesen.
Während des Zweiten Weltkrieges eroberten japanische Militärs das gesamte Stadtgebiet. Japan war Verbündeter des Dritten Reiches und begann als solcher ein Ghetto für jüdische Flüchtlinge einzurichten. Den Bezirk Hongkou durften die so genannten Shanghailänder fortan nur in Ausnahmefällen verlassen, einen Massenmord mussten sie hingegen nicht fürchten.
Mit Kriegsende entschieden sich die meisten Deutschen und Österreicher für einen weiteren Neuanfang. Emigrationswege führten in den folgenden Jahren exemplarisch nach Australien, Israel, in die Vereinigten Staaten aber auch nach Deutschland.
Erreicht man heute Shanghai auf dem Luftweg und jagt im nächsten Schritt mit der Magnetschwebebahn Richtung Innenstadt, dann beschleicht einen die Vorahnung, allenfalls noch Spuren des deutschen Quartiers entdecken zu können: Hochhäuser soweit das Auge reicht. Stadtautobahnen, die wie Flüsse aus Beton einen schier unendlichen Hochhausdschungel durchqueren. Die hier lebenden 13 Millionen Einwohner bilden eine Megapolis, in welcher die alten Wohnquartiere mit ihren schmalen Straßen und kleinen ein- bis zweistöckigen Häusern nach und nach einem modernen Stadtbild weichen. Abrissobjekte werden mit entsprechenden Schriftzeichen markiert und lassen vor dem geistigen Auge neue Wohnviertel in den Himmel wachsen.
Im Bezirk Hongkou stellt sich die Situation nicht anders dar. Doch gibt es Denkmalschutzbestrebungen im Bereich der Ohel Moishe-Synagoge. Tatsächlich wird das Gebetshaus aufwendig saniert. Die umliegenden Straßenzüge harren jedoch der Dinge. Sie erinnern mit ihren dunklen Steinfassaden und den Spitz zulaufenden Dächern teilweise an europäische Arbeiterviertel des vergangenen Jahrhunderts – beengtes Leben ohne ausreichende sanitäre Einrichtungen.
Ein alter Mann, der vor einem Kaufmannsladen unweit der Synagoge steht, berichtet von einem Wiener Cafe in einer benachbarten Straße. Spuren finden sind jedoch keine. Dafür fallen verblichene Werbetafeln für das Cafe Atlantic und den Imbiss Horn auf. Es sind letzte Relikte einer vergangenen Zeit.
Rabbi Abraham Greenberg aus dem Stadtteil Pudong gibt an, dass tatsächlich kein Shanghailänder in der Stadt mehr leben würde. Zeitungsmeldungen zufolge sei der letzte in Shanghai verbliebene Exilant im Jahre 1982 gestorben.
Insofern hat die circa 2000 Köpfe zählende jüdische Gemeinde von heute kaum etwas mit den Flüchtlingen aus Mitteleuropa gemein. Sie besteht zu einem nicht unerheblichen Teil aus Geschäftsleuten und deren Familien. Annähernd 40 Prozent der Gemeindemitglieder stammen aus Israel.
Sie seien sehr froh, dass sie ihre Feste ohne Einschränkungen auch in der Öffentlichkeit feiern können, erklärt Rabbi Abraham Greenberg. Bezüglich politischer Statements gibt er sich erwartungsgemäß äußerst wortkarg.
Jede Zeit hat folglich ihre Geschichten und über die Geschichte der Shanghailänder stolpertman mittlerweile außerhalb Shanghais – zum Beispiel in Kreuzberg.
Berlin, den 20. November 2007 / Erschienen in der Jüdischen Zeitung Dezember 2007 www.j-zeit.de/archiv/artikel.867.html